Montag, 9. November 2009

Rückblick: Wie Murkeline auf die Welt kam

Interessieren jemanden die unappetitlichen Details? Hier sind sie:
Ausgezählter Termin war der 15. Mai, aber weit und breit keine Wehe zu spüren. Nach der Erfahrung meiner ersten Schwangerschaft, in der ich in der 24. Woche meine ersten Wehen hatte und – dank Wehenhemmerhöchstdosis – „erst“ in der 26. Woche entbunden habe (spontan, drei Minuten vor dem angesetzten Notkaiserschnitt), hatte ich in dieser Schwangerschaft mit allem gerechnet, bloß nicht damit, das Kind zu übertragen. Und doch tat sich auch nach dem Termin nichts, Kind lag zwar startklar im Becken, aber der Gebärmutterhals war lang, der Muttermund zu und ich hatte keine einzige Wehe. CTG sah gut aus, das Fruchtwasser wurde langsam weniger, war aber noch nicht bedrohlich wenig. Ich war entspannt und ließ mir „Einleitung derzeit noch nicht gewünscht“ attestieren, trotz „großzügiger Einleitungsindikation bei belasteter Anamnese“. Auch vier Tage nach dem Termin sah es nicht anders aus, die untersuchende junge Ärztin in der Kreißsaal-Sprechstunde sah noch keinen Anlass zum Handeln, konsultierte dann aber doch noch ihren Oberarzt, der nach einem kühlen Blick auf meine Unterlagen befahl: „Einleitung! Sofort! Ich hätte Sie keinen einzigen Tag über Termin gehen lassen! Bei Ihrer Vorgeschichte!“ Ich versuchte noch ein paar Tage herauszuhandeln, weil ich mich mit dem Gedanken, das Kind auf Biegen und Brechen herauslocken zu wollen, obwohl es noch keine Anstalten zum Herauskommen machte, gar nicht wohl fühlte. Außerdem waren wir im Kalender gerade an einem belasteten Datum angekommen, dem Todestag meines Mannes, und ich hätte gern einen größeren zeitlichen Abstand zwischen diesen beiden Terminen, dem traurigen und dem schönen, gehabt.
Aber keine Chance, ich wurde für den nächsten Morgen einbestellt zwecks Einleitung. Ich malte mir allerlei Horrorszenarien aus (drei Tage vergebliche Einleitung mit schmerzhaften, aber muttermundunwirksamen Wehen, und dann doch noch einen Kaiserschnitt …), kaufte mir unterwegs noch ein paar Krimis und packte zu Hause gleich mal meinen gelben Seesack mit Utensilien für zwei Wochen Krankenhaus.
Die Nacht war furchtbar. Zwar keine neuen Schmerzen außer den seit Monaten üblichen (schmerzende Beckenvenen vor allem – nur im Laufen erträglich), aber das Kopfkarussell war heftig. Alle Ängste, alle Befürchtungen, die ich im Laufe der neun Monate gut verdrängt hatte, kamen jetzt an die Oberfläche und ich habe sie in dieser schlaflosen Nacht durchgespielt. Am Morgen war ich völlig k.o., müde, kraftlos und entmutigt, überzeugt, dass weder ich noch das Kind die Geburt überleben.
Ich fuhr mit Handgepäck und U-Bahn ins Krankenhaus. Um 9.00 Uhr klingelte ich an der Kreißsaaltür (zwischen 8.00 und 9.00 war der Termin für unsereinen, ich hatte es bis zur letzten Minute hinausgezögert). CTG im Vorzimmer, alles normal, wie immer. Dann ab in die inneren Räumlichkeiten des Kreißsaals, schickes Krankenhaushemd an, ab ins Bett, ich bekam 2 mg Prostaglandin-Gel vor den Muttermund geschmiert (unangenehm!), wurde wieder ans CTG gefesselt – und die Wartezeit fing an. Erst tat sich gar nix, dann kam mal langsam was leicht wehenähnliches, aber nicht so wirklich. Das Personal schwatzte draußen, eine Klingel hatte ich nicht, so dass ich darauf angewiesen war, wann mal wieder jemand geruhte, nach dem CTG zu schauen (selten) oder mich gar abzubasteln. So lange in einer Stellung gelegen hatte ich seit Monaten nicht mehr, und das aus gutem Grund. Meine Laune besserte sich nicht wirklich, und ich nutzte die Gelegenheit, kurz vorm Schichtwechsel mir noch einen Spaziergang draußen zu erbetteln – ich war drin kurz vorm Stubenkoller. Laufen tat sehr gut (obwohl inzwischen schon aller ca. drei Minuten Wehen kamen und ich diverse Geländer und Laternenmasten unterwegs auf Festigkeit prüfte), frische Luft tat auch sehr gut. In den Pausen beim Wehenwandern hab ich noch einige SMS verschickt, Grundtenor: „Einleitung ist doof, es tut sich nix, ich bin mutlos“.
Gegen 14.00 Uhr war ich wieder im Kreißsaal und setzte meine Wanderung drin fort, die Gänge auf und ab, auf und ab, ich muss an diesem Tag etliche Kilometer abgearbeitet haben. Die Wehen wurden heftiger, Stillstand hätte ich gar nicht ertragen. Zum Glück gibt’s an meisten Wänden im Krankenhaus so eine Art Reling, sehr nützlich so was, etwa so wie Annikas Kühlregale. Ich zählte kleine Elefanten zur Beruhigung und summte (mir? dem Kind?) immer wieder „unser“ Beruhigungslied vor. Das eine oder andere Tränchen lief auch schon, vor Schmerzen. Gegen 15.00 Uhr war der Muttermund ein winziges bisschen geöffnet, nicht wirklich viel. Dann musste ich zu allem Übel mal wieder ans CTG (im Bett), dem Kind ging es weiterhin gut, aber dieses Mistdingens zeichnete immer noch keine einzige Wehe auf, obwohl ich durchaus welche hatte, aber im Rücken. Hat da schon jemand eine Atemtechnik erfunden, um die wegzuatmen??? Die Schmerzen waren nicht schön, ich bekam ein Buscopan-Zäpfchen dagegen, völlig wirkungslos, es wurde immer heftiger, so dass ich endlich DAS Wort aller Gebärenden ausrief, dachte, schrie: „PDA!“ Eigentlich hatte ich keine gewollt, wegen der Risiken, wegen des zusätzlichen Risikos durch die Heparintherapie, aber ich wollte nicht Held spielen, keineswegs. Die Anästhesisten handelten schnell, wir hatten das Vorgespräch schon ein paar Wochen vorher geführt und wir hatten am Nachmittag bei der Flurwanderung noch einmal miteinander gesprochen. Und da die Hebammen immer noch nicht fanden, dass sie sich um mich kümmern müssten, setzte die Anästhesistin mir den Periduralkatheter, während die Anästhesieschwester, statt ihr zu assistieren, mich festhielt, mich zum vernünftigen Atmen anleitete, Tränen wegwischte und tröstete. Endlich saß der Katheter, wenn auch schief (mein linkes Bein war komplett weg, ein Einschuss wie ein Stromschlag), aber ich wollte keine Experimente mehr, wir ließen das Ding so liegen. Nun war ich endgültig ans Bett, ans richtige Gebärbett jetzt, gefesselt, mit PDA und Infusion. Es dauerte noch mal fast eine Stunde, bis die Anästhesie endlich wirkte.
Und kaum fühlte ich mich einigermaßen wieder als Mensch, weil diese entsetzlichen Schmerzen aufhörten, da kam Besuch, zwei Freundinnen, die sich nicht verabredet, aber dennoch an der Kreißsaaltür getroffen hatten. B. brachte meine Riesentasche, und wir hatten vorher verabredet, dass wir abends nach Beendigung der Runde eins der Einleitung, noch gemütlich einen Kaffee in der Krankenhauscafeteria trinken gehen. Nix war mit Kaffeetrinken, jetzt war Gebären angesagt, und so kamen die beiden unverhofft zur ersten Geburt ihres Lebens, „wie im Kino“, meinten sie hinterher.
Gegen 19.00 schaute die Spätdienst-Hebamme (die, seit es ernster wurde, sich endlich auch kümmerte und sich als sehr nett und kompetent erwies) mal wieder nach dem Muttermund, und siehe da, so gut wie vollständig offen. Mit PDA war die restliche Zeit geradezu angenehm, natürlich spürte ich die Wehen noch, aber der Schmerz war erträglich. Die Wehen kamen nach wie vor ausschließlich im Rücken, das hatte ich vorher gar nicht gewusst, dass es so was geben kann. Kommt wohl selten vor. Bei meiner ersten Geburt hatte ich ganz normale Wehen vorne. Ein ungewohnter Schmerz also auch für mich, obwohl es meine zweite Geburt war. Aber so wie jede Schwangerschaft anders ist, ist ja auch jede Geburt anders.
Irgendwie ging es dann weiter, in angenehmer Atmosphäre, meine beiden uneingeplanten Freundinnen mussten manchmal von ihren Kinosesseln aufstehen, wenn an mir herummanipuliert wurde, die junge Ärztin war sehr nett, und sowohl Ärztin als auch Hebamme waren die letzten zwei Stunden ständig bei mir, ich fühlte mich gut umsorgt. Ärztin und Hebamme waren auch ein gutes Team und arbeiten miteinander, statt wie so oft gegeneinander.
Irgendwann fing mein Kind ein bisschen an zu schwächeln, das CTG war zwar immer noch ok, aber nach den Wehen brauchte sie länger, um sich wieder zu erholen, so dass ihr zwei Mal Blut entnommen wurde (aus dem Kopf), um zu sehen, wie’s um sie steht. Ich fand das nicht so toll, ließ mich dann aber doch überreden. Da im Nebenraum auch eine Geburt lief, wollte die Ärztin gerne entscheiden, welches Kind schneller kommen muss und welches sich noch ein bisschen Zeit lassen darf. Mein Kind war wohl fitter, es durfte sich Zeit lassen. Gegen neun durfte ich dann schon mal pressen statt wegzuatmen (was ich schwierig fand), dann wurde das Kind nebenan entbunden, dann durfte ich weiter pressen (und hatte den Bogen inzwischen raus), und nach dem ersten Pressen war Murkelines Körper draußen, nach der zweiten Presswehe der Kopf (mit der Hand am Kopf, natürlich). 21.30 Uhr war mein Kind auf der Welt. Mein Kind! Ich bekam sie sofort eingewickelt auf die Brust, und Murkeline drehte ihren Kopf gleich in Richtung Brustwarze. Fressraupe. Leider war die Milchbar noch zu, was gleich zu heftigem Protest führte (der drei Tage andauern sollte, bis endlich die Milch kam …) Die zukünftige Patentante durfte die Nabelschnur durchschneiden (nur zugucken is nicht), Murkeline wurde gemessen (51 cm, 35 cm Kopfumfang), gewogen (3460 Gramm), gesäubert und eingepackt. Währenddessen wurde mein Dammriss (zweiten Grades) genäht, die Narkose wirkte noch wunderbar, so dass ich während des Nähens nett mit der Ärztin plauderte. „Sie dürfen wiederkommen“, meinte dann auch die Hebamme bei der Verabschiedung. Da hatten wir also alle zusammen einen netten Nachmittag ;-)
Ich musste zur Überwachung noch etwas im Kreißsaal bleiben, bekam noch Infusion (um sicher zu gehen, ob wirklich die komplette Nachgeburt am Riesenmyom vorbeigekommen war). Ich schickte die beiden Voyeure nach Hause, der Nachthebamme gelang es irgendwann endlich, mein schreiendes Kind durch Einpucken zu beruhigen, und ich verlangte und bekam endlich mein Abendbrot. Und gegen 1.00 Uhr nachts wurden wir dann auf die Wöchnerinnenstation verlegt.
Dort hatte ein Feldwebel Nachtdienst, ich kam in ein Dreierzimmer, der Feldwebel machte Licht und Lärm und kam mir dumm, mein Kind wurde trotz meiner Proteste noch mal gewickelt („Wir müssen doch sehen, ob die unten alles richtig gemacht haben“), so dass sie wieder aufwachte und den Rest der Nacht Terror machte. Und wenn sie mal ruhig war, wurde eines der anderen beiden Babies wach.
Am Morgen ließen sich meine beiden Bettnachbarinnen entlassen, ihnen ging es nach der schlaflosen Nacht genauso beschissen wie mir. Vorteil: Es war Feiertag, der Feldwebel hatte das ganze lange Wochenende frei, es gab auch nette und sehr nette Schwestern, die Sonne schien draußen und die Aussicht aus dem Fenster war toll. Und ich lag, Murkeline im Beistellbettchen neben mir, und hielt Händchen mit meinem Kind.
Die nächste Nacht hatte ich das Zimmer für mich alleine, aber Murkeline schrie wieder vor Hunger, bis ich nachts mit ihr über den Flur wanderte, weil sie sich nicht beruhigen ließ. Auf meinen verzweifelten Kommentar „Ich krieg jedes Baby beruhigt, nur mein eigenes nicht“ gingen die Schwestern zum Kampfprogramm über: Fläschchen mit Glukoselösung und Schnuller. Beides wollte ich ursprünglich überhaupt nicht, aber wie schnell wirft man Vorsätze über Bord. Und es half, die Zeit zu überbrücken, bis endlich, endlich am dritten Tag die Milch kam. Bis dahin hatte mir Murkeline leider schon die Brustwarzen wund geknabbert, daran habe ich noch etliche Wochen laboriert. Nie wieder werde ich ein Kind VOR dem Milcheinschuss so oft anlegen! Wir wurden dazu angehalten, weil das angeblich den Milcheinschuss stimuliert, aber nach meiner ersten Geburt hat es mit der Milch auch ohne Stimulation geklappt. Und vier Wochen Schmerzen beim Stillen müssen wirklich nicht sein.
Weil ich noch schwächelte (nach inzwischen drei schlaflosen Nächten) und nur mit reichlich Schmerzmitteln den Tag überstand, blieb ich noch einen Tag länger im Krankenhaus und ließ mich erst am vierten Tag nach der Entbindung entlassen.
Für die erste Zeit zu Hause hatte ich eine Haushaltshilfe organisiert (bezuschusst über die Krankenkasse), das war nötig und sehr hilfreich. Sie kam täglich für drei Stunden zum Putzen, Einkaufen und Kochen. Ich selbst war noch sehr schwächlich, eine Woche ging’s nur mit Schmerzmitteln, jedes Aufstehen schmerzte, jedes Hochheben des Kindes. Und Murkeline hat die ersten Wochen sehr viel geschrieen, jeden Abend von 19.00 bis 1.00 Uhr, da lagen meine Nerven schon blank. Mein Wochenfluss floss und floss, ich hatte sechs Wochen lang starke Blutungen (und kein Arzt fand die Ursache), ich musste mich öfter windeln als das Kind, und außerdem weiterhin Heparin spritzen wegen der schlechten Gerinnungswerte und erhöhter Thrombosegefahr. Da war es schon gut, jemanden zu haben, der zumindest die Grundversorgung übernimmt. Einkäufe in den dritten Stock hoch zu tragen, so was wäre einfach nicht gegangen.
So etwa sieben, acht Wochen nach der Entbindung hatte ich mich dann halbwegs erholt. Richtig fit bin ich erst jetzt wieder, nach fünf Monaten.

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